Phantomlinie U10 [Teil 1]
Das Leben in Großstädten wie London, New York, München oder Berlin findet nicht nur überirdisch statt. Der Mensch breitet sich seit Jahrhunderten auch unterirdisch aus. Ob Begräbnisstätten wie die Katakomben von Rom, Neapel oder Paris oder Bunkeranlagen zum Schutz vor Bomben und Gefahrenstoffen im Kriegsfall, Höhlen und Tunnelsysteme von Untertagebauanlagen oder auch einfach Tiefgaragen, um dem immer größer werdenden Verkehrsaufkommen einen Parkraum zu bieten.
Mit der immer dichter werdenden Besiedlung von Städten und deren Ausbreitung bedarf es immer komplexer werdende Mittel zur Fortbewegung innerhalb dieser Städte. Neben dem Auto, Bus, Fahrrad und der Straßenbahn etablierte sich Ende des 19. Jahrhunderts die Untergrundbahn.
Ein kurzer Abriss der Geschichte der U-Bahn
Die weltweit erste U-Bahn war die Metropolitan Railway in London, welche Anfang 1863 ihren Betrieb aufnahm. Damals noch als Dampflokomotive betrieben, verkehrte sie etwas außerhalb der Londoner Innenstadt von Osten nach Westen und umgekehrt. Doch bevor dieses Bauvorhaben überhaupt umgesetzt werden konnte, bedurfte es einer neuen Technologie des Tunnelbaus, da die damalig verwendete Holzkonstruktion zur Stollenabstützung nicht ausgereicht hätte. Man bediente sich einer Technologie, welche erstmals im Ruhrgebiet zum Bau des Naenser Tunnels in den Jahren 1862 bis 1865 getestet wurde. Der Baumeister Franz von Rziha verwendete in diesem Verfahren für die Rahmenkonstruktion Eisen statt Holz, wodurch eben jenes massiv eingespart werden konnte.
Erst 27 Jahre später nahm die erste elektrisch betriebene U-Bahn der Welt in London ihre Arbeit auf.
1896 startete in Pest (heute östlicher Stadtteil von Budapest) die erste U-Bahn auf europäischen Festland und auch auch in Deutschland schlossen sich AEG und Siemens bereits 1895 zu einem Konsortium zusammen um den Bau unterirdischer Bahnen in Berlin um zu setzen.

Da AEG damals keine Genehmigung zum Metro-Bau in Berlin bekam, entstand 1895 bis 1899 der erste Verbindungstunnel zwischen den Berliner Vororten Treptow und Stralau. Hier fuhr ab 1899 also die erste U-Bahn Deutschlands (zwischen zwei AEG-Werken).
Wenn man es denn U-Bahn nennen kann, denn anfänglich war es lediglich eine Straßenbahn welche 15m tief unter Spree durch einen ca. 450m langen Tunnel verkehrte.
In Berlin konnte Siemens eine Genehmigung zum Bau einer U-Bahn erhalten und nahm 1902 die erste U-Bahn in Betrieb. Bis 1913 erfolgte der Ausbau des sogenannten Kleinprofilnetzes und verband Berlin, Schöneberg, Charlottenburg, Wilmersdorf und Dahlem miteinander. Danach erfolgte bis ca. 1930 der Ausbau und die Vernetzung des damaligen Groß-Berlin.
Das Phantom die U10
„Berlin ist eine Stadt die vom politischen und wirtschaftlichen Wandel stark gezeichnet ist. Bauvorhaben werden geplant, projektiert, begonnen und abgebrochen bzw. stillgelegt.“
Nach dem Mauerbau 1961 verlor die S-Bahn in Westberlin zunehmend an Bedeutung. Dies lag vor allem daran, da sie im Zuständigkeitsbereich der deutschen Reichsbahn blieb, deren Sitz in Ost-Berlin war und deshalb vom Westen boykottiert wurde. Folglich wurde in den sechziger und siebziger Jahren vor allem in den Ausbau der U-Bahn investiert. West-Berlin hatte damals ausreichend finanzielle Mittel und steckte diese in Bauvorleistungen, sogenannte „Blinde Tunnel“.
Diese entstanden unter anderem auch für die heute als „Phantomlinie U10“ bekannte Linie, welche schon in den zwanziger Jahren unter dem Namen
„Linie F“ vorgesehen und 1955 im Ausbauplan des Stadtrats für Verkehr enthalten war. Sie sollte von Weißensee (NO) quer durch die Stadt über dem Alexanderplatz bis nach Steglitz (SW) führen.
In der Vergangenheit wird oft behauptet, dass diese Strecke die S-Bahn, welche nur wenige hundert Meter östlich verlief, verdrängen sollte. Doch das Argument, die Wohnviertel mittels der U10 besser zu erschließen, da die S-Bahnhöfe sehr weit auseinander liegen, steht der Aussage seit jeher gegenüber. Trotz zahlreicher Bauvorleistungen, wurde die U10 bis heute nie umgesetzt.

Jedoch lässt sich der Streckenverlauf quer durch die Stadt anhand dieser Rohbauten heute noch gut erkennen.
Im Süden sollte die U10 von der Drakestrasse kommend am U-Bahnhof „Rathaus Steglitz“ mit der U9 zusammengeführt werden. Die entsprechenden Bahnhöfe wurden dafür damals errichtet. Heute nutzt die U9 den eigentlich für die U10 vorgesehenen Bahnhof, während ein Teil des Bahnhofes der U9 gegenwärtig als Fußgängerverbindung zur S-Bahn genutzt wird. Die U9 und U10 sollten gemeinsam von „Rathaus Steglitz“ über „Schloßstraße“ bis „Walther-Schreiber-Platz“ verlaufen. Da unterhalb der Schloßstraße allerdings kein Platz für parallel verlaufende U-Bahnlinien gewesen wäre, hat man die beiden Linien auf zwei Etagen übereinander gebaut.
Heute nutzt die U9 beide Etagen am Bahnhof Walther-Schreiber-Platz.
Die zweite Etage weiter gen Süden ist unbenutzt.
Meine Reise beginnt…

Meine erste Reise auf den Spuren der Phantomlinie U10 und damit in die Berliner Unterwelt beginnt bereits am Bahnhof „Rathaus Steglitz“. Hier liegen zwei Bahnhöfe direkt nebeneinander. Während man als Passant lediglich den Bahnhof der U9 nutzen kann, befindet sich hinter einer gefliesten Wand ein exaktes Ebenbild dieses Bahnhofes. Nur ist dieser Bahnhof über einen Rohbau-Status nie hinaus gekommen. Für mich eröffnete sich an diesem Tag ein ganz besonders irreales Bild, da sich ein Teil des aktiven Bahnhofes aktuell in der Renovierung befand und damit ebenso abgesperrt war, wie der Geister-Bahnhof. Neben einem leeren Bäcker und Serviceschalter, technischen Anlagen und nachträglich eingezogenen Rigips-Wänden vermischt sich das Bild mit kahlen Wänden und schienenlosen Gleisbetten die in ein schwarzes Nichts führen. Zum Teil wirkt der Bahnhof noch bzw. wieder im Bau.
Die Frage weshalb ein Teil des Bahnhofes eingerüstet war erschließt sich mir bis heute nicht.
Das schadet der Atmosphäre, in der ich mich befinde jedoch nur wenig, denn etwas anderes fällt mir auf während ich so in diesem verlassenem Bahnhof stehe: Menschen. Zumindest akustisch.
Während ich mich optisch in einem völlig menschenleeren Bahnhof befinde, wirkt doch die typisch urbane Geräuschkulisse auf mich ein. Das rattern einer einfahrenden U-Bahn, krächzende Lautsprecher-Durchsagen, Stimmengewirr, der Signalton der U-Bahn während die Türen sich schließen, eilende Schritte von Menschen welche die Bahn nicht mehr schaffen. Das alles erschafft eine einzigartige Impression.
Zu beiden Seiten des Bahnhofes führen die schienenlosen Tunnel der U-Bahn knapp 50m ins Dunkel. Dann kommt eine Wand hinter der es zumindest nördlich noch weiter gehen würde. Von hier aus könnte man vermutlich entspannt unter der Schloßstraße bis zum Bahnhof „Schloßstraße“ und weiter Richtung „Walther-Schreiber-Platz“ spazieren.

Für mich geht es nun aber zum zweiten Teil dieser Reise: Der Innsbrucker Platz.
Hier führt es mich zunächst durch eine unscheinbare Tür eine weitere Etage tiefer unter die Erde. Unten angekommen öffnet sich mir eine weitere Tür und abermals an diesem Tag in eine andere Welt.
Eine verlassene, kalte, stumme Welt.
Ich betrete eine Zugangshalle. Rohe, dunkelgraue Rohbauwände malen ein unfertiges aber doch vertrautes Bild. Der kahle Boden senkt sich vor mir weiter nach unten. Eine provisorische Holztreppe erleichtert mir den Abstieg in den ebenfalls im Rohbau stehen gebliebenen Bahnhof. Ein Bahnsteig mit zwei leeren Gleisbetten zu beiden Seiten, ähnlich wie der am „Rathaus Steglitz“.
Und doch ist es eine völlig andere Atmosphäre in der ich mich befinde.
Die einzige Lichtquelle hier ist der Schein meiner Taschenlampe und das schummrige Licht, welches durch Belüftungs- und Service-Schächte von oben in den Bahnhof herab fällt. Über mir in einem Schacht kann ich Menschen sehen. Nichts weiter als geschätzte 20m Höhenunterschied und ein Gitter trennen uns. Ein Passant schaut sogar zu mir herunter. Wenn ich nicht wüsste, dass er lediglich in einen schwarzen Schacht schaut, würde ich behaupten, wir hätten kurz Blickkontakt gehabt. Hier unten kommt die Geräuschkulisse des Berliner Bahnhoflebens nur gedämpft an.
Ich mache meine Bilder, lasse die Atmosphäre auf mich ein wenig wirken und begebe mich wieder zurück in die geschäftige und laute Zivilisation.
Vorerst endet hier meine Reise auf den Spuren der Phantomlinie U10…